Nachhaltige Entwicklung und "Green Chemistry"
Angesichts steigender Weltbevölkerung und begrenzter Rohstoffreserven ist das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung zum roten Faden der Weltentwicklung im 21. Jahrhundert geworden. Aber nur Forschung und Innovationen ermöglichen die Neugestaltung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung. Zukunftsgestaltung mit Visionen, Kreativität und Phantasie, wobei auch Neues gewagt und Unbekanntes erkundet wird, ist nötig.
Nachhaltigkeit (engl.: sustainable development, sustainability) beginnt in Wissenschaft und Technik bereits in dem Moment, in dem wir uns einer Problemlösung oder der Entwicklung neuer Technologien aus wissenschaftlichen Ergebnissen zuwenden. Der Chemie, als Wissenschaft der Stoffumwandlung und Mittler zwischen Physik, Biologie und Materialwissenschaften, kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Nur chemische Prozesse, die nach gründlicher Planung zu maximaler Effizienz optimiert werden, führen später zu nachhaltiger chemischer Produktion mit neuen nachhaltigen Produkten. Wissenschaftler und Techniker, die chemische Prozesse entwickeln und optimieren, tragen daher entscheidend zum Prozess der nachhaltigen Entwicklung bei. Mit Wachsamkeit, Kreativität und Überblick müssen sie die Effizienz von Reaktionen und Prozessen stetig maximieren. Der Begriff der "Green Chemistry" ist für Anstrengungen speziell in diesem Bereich geprägt worden.
Green Chemistry Mission:
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To promote innovative chemical technologies that reduce or eliminate the use or generation of hazardous substances in the design, manufacture, and use of chemical products. |
1 Hintergrund
Chemie wird schon sehr lange unterrichtet. Dabei war es meist das Ziel der synthetischen Ausbildung, chemische Verbindungen in ausreichender Menge und hoher Reinheit herzustellen. Dadurch entsteht fast zwangsläufig ein starker Fokus auf das Reaktionsprodukt, dessen praktische Synthese und Reinigung im Mittelpunkt der Ausbildung steht. Die Frage, wie viel Energie für die Reaktion benötigt wird oder welche Nebenprodukte und Abfälle entstehen, wurde bisher meist nur für industrielle chemische Verfahren gestellt. Auch wenn das Ziel Organischer Synthesechemiker - die Synthese chemischer Verbindungen in hoher Ausbeute und Reinheit - sich nicht verändert hat, müssen wir heute zunehmend weitere Parameter bei der Entwicklung neuer Verfahren beachten. Die letzten 20 Jahre, in denen den Auswirkungen chemischer Produktionsverfahren und Chemikalien auf die Umwelt hohe Aufmerksamkeit geschenkt wurde, haben eines klar gezeigt: Es ist viel besser, einfacher und billiger von Beginn an nachhaltige chemische Prozesse zu entwickeln, als schlechte Prozesse und Substanzen im Nachhinein zu ändern oder auszutauschen, um Umweltgefährdungen zu reduzieren.
Daher ist es wichtig, dass Chemiker, Biochemiker, Ingenieure und andere Wissenschaftler, die neue Wirkstoffe, Materialien oder Reaktionen entwickeln, nachhaltig denken, wenn sie ihre Ideen in Produkte und Prozesse übertragen. Dies erfordert aber auch eine andere chemische Ausbildung, die mehr als Experimentiertechniken und Reaktionsmechanismen vermittelt. Studierende müssen lernen, die Nachhaltigkeit einer chemischen Reaktion einzuschätzen und beim Einsatz von Chemikalien eine Vielzahl von Parametern zu berücksichtigen. Nicht nur die stöchiometrische Ausbeute einer Reaktion ist das was zählt! Welche Ausgangsmaterialien werden benötigt? Können diese aus nachwachsenden Rohstoffen gewonnen werden? Werden giftige Nebenprodukte bei der Reaktion gebildet und wie kann ihre Bildung vermieden werden? Wieviel Abfall entsteht im Gesamtprozess und wie steht es mit dem Energieverbrauch? Können die benutzten Lösungsmittel und Katalysatoren wiedergewonnen werden? Werden diese Fragen schon am Anfang chemischer Forschung und Technologieentwicklung gestellt, kann dies zu mehr Effizienz und Nachhaltigkeit in der Chemie führen. Werden diese Fragen bereits im organischen Laborpraktikum gestellt und behandelt, so wird sich die Art und Weise ändern, mit der Studierende eine chemische Reaktion betrachten. Und dies ist sicher eine gute Vorbereitung für ihre späteren beruflichen Herausforderungen.
Vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklung chemischer Techniken in den letzten Jahrzehnten ist es nicht überraschend, dass viele traditionelle Labormethoden die noch Bestandteil der Ausbildung sind, heute neu überarbeitet und eingeschätzt werden müssen. Ein schönes Beispiel ist die Beilsteinprobe, die es auf einfache Weise erlaubt Halogene (z.B. Chlor- oder Bromatome) in organischen Substanzen nachzuweisen. Zur Durchführung des Tests wird ein sauberer Kupferdraht in die zu analysierende Substanz oder eine Lösung der Substanz getaucht und dann in eine Flamme gehalten. Eine grüne oder blaue Flammenfärbung zeigt Halogene an (s. Abbildung 1). Erst kürzlich wurden die Nebenprodukte dieses analytischen Verfahrens genauer untersucht. Die Analyse zeigt, dass bei der Beilsteinprobe in vielen Fällen erhebliche Mengen hochgiftiger Dioxine entstehen. Dioxine gehören zu den giftigsten Substanzen die wir auf der Erde kennen. Daher sollte man aufgrund dieser Ergebnisse beim Beilsteintest vorsichtig sein und den Experimentator vor den Reaktionsprodukten schützen (z.B. durch Arbeiten unter einem Laborabzug) oder – noch besser – den Test durch moderne analytische Verfahren ersetzen [1].
2 Von "guten" und "bösen" Reaktionen
Natürlich gibt es keine generell guten oder bösen Reaktionen. Wie "gut" eine Reaktion ist, hängt immer von vielen Parametern ab, z.B. dem Maßstab, in dem wir eine Reaktion durchführen wollen, der erforderlichen Reinheit unseres Produkts oder welche Ausgangsmaterialien wir für die Synthese zur Verfügung haben. Dennoch gibt es Methoden, mit denen sich die generelle Effizienz einer chemischen Reaktion über die chemische Reaktionsausbeute hinausgehend beurteilen lässt. Das dafür verwendete Konzept der Atomökonomie (engl.: atom economy, Abbildung 2) wurde von Trost eingeführt [2]. Um die Atomökomonie einer Reaktion zu messen, summieren wir die Atommassen in allen Ausgangsmaterialien gemäß der stöchiometrischen Reaktionsgleichung und vergleichen diese mit der Summe der Atommassen im gewünschten Produkt. Die Atome unerwünschter Produkte und der Reaktionsnebenprodukte zählen als Abfall; bei technischen Prozessen nennt man sie Kopplungsprodukte. Die Methode erlaubt eine generelle Einschätzung der Effizienz einer Reaktion und führt zu verschiedenen Schlussfolgerungen, z.B. dass Additionsreaktionen im allgemeinen eine bessere Atomökonomie besitzen als Substitutionsreaktionen, bei denen stöchiometrische Abfallmengen aufgrund der Reaktionsgleichung entstehen müssen. Das Konzept der Atomökonomie betrachtet nur die chemische Reaktion an sich.
Andere Methoden, wie z.B. der Sheldon Faktor E (Abbildung 3) der Umweltverträglichkeit [3] oder ein erst kürzlich entwickeltes Computerverfahren zur Reaktionsbeurteilung [4], schließen Lösungsmittel, Energieverbrauch und Giftigkeit von Chemikalien in ihre Bewertung mit ein. Bewertet man nun etablierte chemische Verfahren mit diesen Methoden, so findet sich eine klare Korrelation von Umweltverträglichkeit und Produktionsmenge. Dies ist nicht überraschend, da mit zunehmendem Maßstab die negativen Faktoren einer ineffizienten Reaktion, wie große Abfallmengen, giftige Nebenprodukte oder Energieverlust, immer weniger toleriert werden können.
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Das bekannteste Beispiel einer sehr wichtigen organisch-chemischen Reaktion, die aber in einigen Fällen eine nur geringe Atomökonomie besitzt, ist die Wittig-Reaktion (Abbildung 4). Bei der Umwandlung einer Carbonylgruppe in eine Methylengruppe durch ein Phosphoniumsalz (Molmasse 357 g/mol) findet sich nur eine CH2-Gruppe mit einer Molmasse von 14 g/mol im Produkt wieder. Das unvermeidbare Nebenprodukt Triphenylphosphanoxid mit einer Molmasse von 278 g/mol, ein Equivalent HBr und die benötigte Base landen im Abfall.
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Das bedeutet aber natürlich nicht, dass die Wittig-Reaktion eine schlechte Reaktion ist! Die Reaktion gehört zu den wertvollsten und schlagkräftigsten Werkzeugen der Organischen Synthese zur selektiven Erzeugung von Kohlenstoff-Kohlenstoff Doppelbindungen aus Carbonylverbindungen. Wird die Reaktion allerdings im großen Maßstab durchgeführt, so ist eine Rückgewinnung des Triphenylphosphans aus dem Koppelprodukt Triphenylphosphanoxid nötig und dies wird in der chemischen Industrie auch durchgeführt. Auch die Entwicklung alternativer Reaktionen für die Alkensynthese, wie z.B. die metallkatalysierte Alkenmetathesereaktion, kann zu einem effizienteren Prozess führen.
3 Ein Fall für Sherlock Holmes
Schauen wir uns einige Beispiele aus dem organisch-chemischen Laborpraktikum an. Die Umwandlung einer Carbonylgruppe in ihr Acetal findet sich im Programm der meisten Praktika, da diese Carbonylschutzgruppe von genereller Bedeutung für die Organische Synthese ist. Die Reaktion illustriert zudem sehr schön die Reaktivität der Carbonylfunktionalität und die Verwendung eines Wasserabscheiders, mit dem das chemische Gleichgewicht durch die Entfernung von Wasser aus der Reaktionsmischung verschoben wird. Die beiden in Abbildung 5 gezeigten Reaktionen finden sich in vielen Praktikumsbüchern und Skripten. Beide Reaktionen sind relativ gut atomökonomisch: Nur ein Equivalent Wasser wird als Koppelprodukt erzeugt, wobei allerdings die Methode der Wasserentfernung, die Wahl des Katalysators und die Aufarbeitung der Reaktion die Gesamteffizienz stark beeinflussen können. Aber ein Unterschied zwischen beiden Reaktionen ist besonders auffällig: Während Reaktion A eine isolierte chemische Produktausbeute von 80 - 90%, abhängig von der praktischen Erfahrung des Experimentators, liefert, wird in Reaktion B das Produkt in nur 55 - 65% erhalten. In allen Lehrbüchern rund um die Welt, die Reaktion A und B beschreiben und in denen wir nachgeschaut haben, ist die Ausbeute für Reaktion B viel geringer im Vergleich zu Reaktion A. Es muss also eine chemische Ursache für diese Differenz geben!
Interessanterweise zeigt die Analyse der rohen Reaktionsprodukte von A und B durch Techniken wie die magnetische Kernspinresonanz (NMR) oder die Gaschromatographie (GC) in beiden Fällen eine sehr saubere Reaktion ohne signifikante Nebenproduktbildung. Nur die gewünschten Produkte und Spuren nicht abreagierten Ausgangsmaterials werden gefunden. In Reaktion B ist ein Teil der Substanz also spurlos verschwunden! Mit detektivischem Spürsinn machen wir uns auf die Suche nach versteckten Reaktionspfaden und unerwünschten Reaktionsprodukten – und tatsächlich – es wird CO2 gefunden, das aus dem Reaktionsmedium austritt und Aceton und Ethanol, die sich in der wässrigen Phase sammeln. Jetzt wird der Fall klarer. Wir haben gute Hinweise auf eine signifikante Nebenreaktion unseres Ausgangsmaterials, die mit unserem Wissen über organische Reaktionsmechanismen schnell aufgedeckt ist. Der eingesetzte β-Ketoester hydrolysiert unter den sauren Reaktionsbedingungen und liefert eine β-Ketocarbonsäure. Derartige Verbindungen sind bekannt dafür, dass sie bei Erwärmung CO2 abspalten (Decarboxylieren). In unserer Reaktion entstehen so CO2 und Aceton als Produkte. Diese Reaktion konkurriert mit der Acetalisierung um das Ausgangsmaterial, verbraucht fast die Hälfte des eingesetzten β-Ketoesters und führt so logischerweise zu einer geringeren Ausbeute des gewünschten Produkts. Jetzt, wo das Problem erkannt ist, können wir beginnen darüber nachzudenken, wie sich der Prozess und seine Effizienz verbessern lässt. Die Verwendung eines anderen Katalysators, anderer Reaktionsbedingungen oder eines anderen Lösungsmittels könnten erste Versuche sein.
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4 Hier geht’s um die Energie!
Betrachten wir noch einmal Reaktion A. Die Chemie stimmt hier und liefert das Produkt in guter Ausbeute und Reinheit. Es gibt verschiedene Möglichkeiten das Experiment durchzuführen. Macht es aber einen Unterschied, ob wir das Reaktionsgefäß mit einem Ölbad, einem elektrischen Heizmantel (Heizpilz) oder im Mikrowellenofen aufheizen? Es macht sogar einen gewaltigen Unterschied! Wir erwarten natürlich in allen drei Fällen identische Produkte, aber die für die Reaktion benötigte Energie ist sehr unterschiedlich. In Abbildung 7 sind die drei experimentellen Aufbauten und der gemessene Energieverbrauch für die Reaktion und ihre Aufarbeitung gezeigt. Der Mikrowellenofen gewinnt den Vergleich deutlich.
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Aber es gibt noch weitere Parameter, die den Energiebedarf einer Reaktion bestimmen und auf den ersten Blick meist nicht beachtet werden. So kann Reaktion A in verschiedenen organischen Lösungsmitteln durchgeführt werden. Es wird das identische Produkt erhalten, die unterschiedliche Wärmekapazität der Lösungsmittel trägt aber zum Energiebedarf bei. Dies ist ein Faktor, der bei Reaktionen in großem Maßstab wichtig wird.
Energieverluste lassen sich mit Hilfe von Infrarotaufnahmen sichtbar machen. Abbildung 8 zeigt die Bilder der Reaktionsaufbauten für Reaktion A mit Ölbad und elektrischem Heizmantel. Sofort wird deutlich, warum für diese beiden Reaktionsdurchführungen soviel mehr Energie benötigt wird als im Falle des Mikrowellenofens, der gezielt nur die Reaktionslösung erhitzt. Durch zusätzliche Isolierung von Teilen der Laborapparatur kann die Energieabstrahlung reduziert werden. Der Erfolg solcher Maßnahmen wird im Infrarotbild direkt sichtbar und kann durch die Energieaufnahme gemessen werden.
Der unterschiedliche Energieverbrauch ist für Laborexperimente unbedeutend, da die benötigte Gesamtenergiemenge vergleichsweise gering ist. Das Ziel der gezeigten Experimente ist daher nicht die Reduktion des Energieverbrauchs im Ausbildungslabor, sondern allen, die in Wissenschaft und Technik arbeiten, die Faktoren des Energieverbrauchs bewusst zu machen, die mit zunehmendem Maßstab der Reaktion immer wichtiger werden.
5 Giftig oder nicht?
Der Umgang mit Chemikalien birgt eine potenzielle Gefahr für Mensch und Umwelt. Jeder der in seinem Beruf mit Chemikalien umgeht, sollte daher in der Lage sein, auch gefährliche Substanzen sicher zu handhaben, Informationen zur Giftigkeit zu beschaffen und die möglichen Auswirkungen chemischer Prozesse auf die Umwelt anhand dieser Daten einzuschätzen. Der Gebrauch, das Verständnis und die Interpretation von Toxizitätsdaten müssen daher ein wichtiger Teil der chemischen Ausbildung sein. Die folgende Reaktion, wieder ein typisches Beispiel aus Lehrbüchern und Praktikumsskripten, illustriert dies. Die Nitrierung von Toluen liefert mehrere Reaktionsprodukte in verschiedener Ausbeute. Die genaue Analyse der Rohproduktmischung zeigt, dass neben den nach den Substitutionsregeln der elektrophilen aromatischen Substitution erwarteten ortho- und para-substituierten Produkten, auch signifikante Mengen anderer Produkte entstehen. Die Menge der Nebenprodukte ändert sich mit den Reaktionsbedingungen, ihre Bildung ist unter normalen Bedingungen aber nur schwer völlig zu vermeiden. Durch übliche Aufarbeitungsverfahren können einige der Produkte isoliert und gereinigt werden. Für die Bewertung der potenziellen Gefährdung durch die Reaktion müssen wir aber alle gebildeten Produkte, die gewünschten und die unerwünschten, mit einbeziehen. Alle Verbindungen sind entstanden und können in Kontakt mit Mensch und Umwelt gelangen.
Die Gesamtwirkung einer chemischen Substanz auf Mensch und Umwelt ist nur schwer zu messen. Ein Wirkfaktorenmodell, das aus einer Vielzahl von akuten und chronischen Toxizitätsdaten abgeleitet wird, erlaubt eine vergleichende Risikoabschätzung bei Stoffen und Stoffgemischen, selbst wenn die toxikologischen Daten unvollständig sind. Das von uns zur Bewertung eingesetzte Wirkfaktorenmodell [5] bezieht sich zwar ausschließlich auf toxische Eigenschaften, wird aber in unserer Gesamtbewertung noch um die Abschätzung der Umweltgefahren erweitert. Dabei berücksichtigen wir, wie schnell sich eine Substanz in der Umwelt verteilt, wie lange es dauert, bis sie vollständig abgebaut ist und welche Toxizität sie z.B. für im Wasser lebende Organismen hat. Abbildung 9 zeigt Substanzen, die bei der Nitrierung von Toluen verwendet werden und entstehen, in Form farbkodierter Wirkfaktoren, um das Gefährdungspotenzial sofort sichtbar zu machen. Auf den Internetseiten unseres Projekts sind solche Daten für viele Reaktionen zu finden. Aber nicht für alle Substanzen sind überhaupt vollständige Toxizitätsdaten verfügbar und neue Substanzen sind z.T. noch nicht untersucht. In solchen Fällen muss nach chemischen Strukturelementen gesucht werden, die eine mögliche Gefahr anzeigen (Struktur-Toxizitätsbeziehungen). Mit Hilfe der NOP-Materialien soll jeder Teilnehmer eines organischen Laborpraktikums in die Lage versetzt werden, die mögliche Gefährdung abzuschätzen, die von einer chemischen Reaktion ausgeht.
Der Effekt einer chemischen Reaktion auf die Umwelt endet aber nicht an der Labortür, obwohl wir dies in Ausbildungspraktika oft so annehmen, da nur geringe Chemikalien- und Abfallmengen im Spiel sind. Den Horizont der Betrachtung von Zeit zu Zeit etwas zu erweitern (Abbildung 10), kann aber interessante Einsichten und Erkenntnisse liefern. Die Übung beginnt mit der chemischen Reaktion selbst. Dann wird die Betrachtungsebene Schritt für Schritt erweitert. Wie wurden unsere Ausgangsmaterialien hergestellt? Werden sie aus nachwachsenden Rohstoffen gewonnen? Was geschieht mit unserem Reaktionsabfall? Woher kommt die für die Reaktion benötigte Energie und wie wurde sie erzeugt? Was wurde benötigt, um den experimentellen Aufbau herzustellen? Am Ende erhalten wir ein komplettes Bild, wie unsere Reaktion mit der Umwelt in Beziehung steht. In den meisten Fällen ist es allerdings schwierig, alle Parameter genau zu bestimmen oder zu quantifizieren. Doch selbst grobe Abschätzungen erlauben es, Probleme, Chancen für Verbesserungen und Synergien aufzuspüren.
6 Ganz natürlich!
Enzymatische Reaktionen (Abbildung 11) gehören heute fest zum Repertoire der modernen organischen Synthesechemie. Sie zeichnen sich durch eine oft beeindruckende Selektivität aus, und die zunehmend bessere kommerzielle Verfügbarkeit erleichtert die praktische Anwendung im Labor. Biotransformationen sollten daher Bestandteil jedes praktischen Laborkurses der Organischen Chemie sein. In unserer Projektdatenbank sind mehrere zuverlässige Experimentiervorschriften für enzymatische Reaktionen zu finden. Auf den ersten Blick erscheinen enzymatische Reaktionen als eine perfekt nachhaltige Chemie, aber dies ist allzu oft leider nicht der Fall. Insbesondere bei großen Reaktionsansätzen kann für die Isolierung des Produkts aus wässriger Lösung ein großer Energieaufwand nötig sein. Einige Enzyme können in organischen Lösungsmitteln verwendet werden, um das Problem zu lösen, aber die Breite der Anwendbarkeit und Reaktionsselektivitäten können eingeschränkt sein. Die Selektivität einer Reaktion ist ein wichtiger Parameter zur Abschätzung der Effizienz, aber nur das ausgeglichene Zusammenspiel mit allen anderen Parametern führt zu chemischen Umwandlungen mit maximaler Effizienz. Dies gilt es auch bei Biotransformationen zu beachten. Daher ist auf der Suche nach dem Prozess mit der höchsten Gesamteffizienz der Vergleich einer enzymatischen Reaktion mit katalytischen Prozessen der modernen organischen Chemie immer einen Versuch wert.
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7 Informationen in neuem Format
Um den verschiedenen Aspekte der Nachhaltigkeit in der chemischen Ausbildung besser gerecht werden zu können, wurde von unserem Team eine über das Internet zugängliche Datenbank geschaffen, die ca. 100 Laborexperimente enthalten wird. Neben einer detaillierten Laborvorschrift, Sicherheitshinweisen, und Angaben zur Analytik wird zusätzliches Material zur Verfügung gestellt, dass die verschiedenen Aspekte der Nachhaltigkeit abdeckt. Das Material kann individuell an jeden Typ organisch-chemischer Laborpraktika angepasst werden oder für begleitende Seminare genutzt werden. Das vollständige Material ist über das Internet frei zugänglich. Das Projekt, in dem sieben deutsche Universitäten kooperierten, wurde von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt finanziert. Dafür bedanken wir uns herzlich.
Literatur
[1] B. M. Scholz-Boettcher, M. Bahadir, and H. Hopf. Angew. Chem., 104:477–479, Angew. Chem., Int. Ed. Engl., 31, 443–444, 1992.
[2] B. M. Trost. Angew. Chem. Int. Ed. Engl, 34:259 – 281, 1995.
[3] R. Sheldon. Chemtech, 24(3):38 – 47, 1994.
[4] M. Eissen and J. O. Metzger. Environmental performance metrics for daily use in synthetic chemistry. Chem. Eur. J., 8(16):3580 – 3585, 2002.
[5] F. Kalberlah and H. Wriedt. Bewertung und Fortentwicklung der Regelsetzung: Anwendbarkeit der TRGS 440. Schriftenreihe der BAuA.
update 23. August 2012